Die Musikindustrie hat ein strukturelles Problem - und das nicht erst seit gestern. Müssen wir wirklich immer noch darüber reden? Eine Studie zeigt: Ja, müssen wir. Wir haben mit der MaLisa Stiftung und Antje Schomaker über Gleichberechtigung und Sexismus in der Musik gesprochen: Wo das Problem liegt, was falsch läuft und wie wir das ändern können.
Disclaimer: Es geht bei der erwähnten Studie um "Geschlechterverhältnisse", also Männer, Frauen und andere Geschlechtsidentitäten. In diesem Artikel werden in den Studienergebnissen die Unterschiede nur zwischen Männern und Frauen ausgewiesen, da die Fallzahlen anderer Geschlechtsidentitäten so gering waren, dass sie hier nicht aufgeführt werden können.
In der Musikbranche sind Frauen und nichtbinäre Menschen unterrepräsentiert – das zeigt auch die Studie der MaLisa Stiftung in Kooperation mit der GEMA und Music S Women. Auf den großen deutschen Festivals waren 2019 weniger als ein Fünftel der Acts weiblich.
Es lässt sich im beobachteten Zeitraum zwar ein leichter Anstieg des Frauenanteils erkennen, dennoch bleibt er auf geringem Niveau. "Bei kleinen Festivals werden zwar schon mehr Musikerinnen gebucht, von einem Gleichgewicht sind wir aber noch weit weg", erzählt Referentin der MaLisa Stiftung Anna Groß. "Nichtbinäre Personen sind quasi gar nicht aufzufinden."
Die Musik in den deutschen Charts wird zu über 85 Prozent von Männern produziert, betrachtet hat man hier die Urheber*innen, die bei der GEMA ihre Werke anmelden. Im untersuchten Zeitraum von 2010 bis 2019 lässt sich sogar ein Aufwärtstrend im Männeranteil feststellen. Deshalb ist es nicht so einfach, deutsche Songs zu finden, die nur von Frauen produziert wurden. Selbst Musikerinnen, die über Feminismus singen, arbeiten oft mit männlichen Produzenten zusammen.
Wenn Frauen im Studio dabei sind, werden sie oft nicht an der Urheberschaft beteiligt, darin liegt allerdings die Bezahlung. Auch hier versteckt sich ein Gender Pay Gap.
"Männer machen einfach bessere Musik"
Teilweise herrscht immer noch der Glaube, dass der Ursprung der Geschlechterungerechtigkeit mangelndes Talent sei. Es gäbe einfach nicht genug Frauen, die gute Musik machen. Dabei stehen auf den großen internationalen Bühnen viele weibliche Stars wie Taylor Swift, Billie Eilish oder Rihanna. In Deutschland finden sich vergleichbare Stars eher im Schlager wie Helene Fischer oder im Hip Hop mit Shirin David.
Denn es gibt genug gute Musikerinnen. Man muss ihnen als Newcomerinnen nur erstmal eine Chance geben. Wenn Künstlerinnen aber am Anfang ihrer Karriere strukturell nicht auf Festivals gebucht werden, nicht in beliebte Playlists kommen und nicht im Radio laufen, kann sich daraus auch keine Headlinerin entwickeln.
Wenn Songs mehr als ein halbes Jahr in den Charts verweilen, sie also über einen langen Zeitraum oft von vielen Leuten gehört werden, gelten sie laut der Studie der MaLisa Stiftung als erfolgreicher. Hier ist die Frauenquote im Vergleich zu den Quoten in anderen Bereichen der gleichen Jahre höher. "Es gibt Studien dazu, dass diverse Teams erfolgreichere und spannendere Projekte machen - und in Bezug auf Musik scheint sich das eben auch zu zeigen", sagt Anna Groß.
Sexismus und Belästigung
Nicht nur die fehlende Repräsentation von Frauen sondern auch der alltägliche Sexismus, dem Musikerinnen in der Branche ausgesetzt sind, ist ein Problem. Frauen werden nicht ernst genommen oder ihnen werden die musikalischen Fähigkeiten abgesprochen. Schlimmer noch, nicht wenige erleben Belästigung oder werden nach Aussehen statt nach ihrer Kompetenz bewertet. Laut einer Studie von der MaLisa Stiftung in Kooperation mit Keychange haben 96 Prozent der befragten Frauen schon einmal diskriminierende Erfahrungen in Bezug auf ihr Geschlecht gemacht.
Die Musikerin Antje Schomaker erzählt mir von einer Situation, in der sie sich im Studio mal belästigt gefühlt hat: "Ein Produzent hat mich die ganze Zeit angeflirtet. Super unangenehm. Da habe ich mir dann auch eine Freundin in die Session mit reingenommen, damit ich mich wohler fühle."
"Da kam ich mir schon vor wie eine Diva, eine komplizierte Künstlerin - dass ich mit denen nicht mehr arbeiten will."
Antje Schomaker im Interview
Die patriarchale Gesellschaft gibt Frauen oft zu verstehen, dass sowohl ihre Fähigkeiten als auch ihr Aussehen nicht genug seien - eben auch in der Musikbranche. Sie seien immer zu viel oder zu wenig. "Im Studio wurde mir schon oft meine Kompetenz abgesprochen. Es gab viele Situationen, in denen ich etwas fünf Mal sagen musste." erzählt Antje. Und wenn Musikerinnen die Technik auf der Bühne selbst aufbauen, werden sie häufig Opfer von Mansplaining.
Ich hab die Technik ganz alleine aufgebaut // Natürlich muss da nochmal jemand drüber schauen // Doch ich hab das ganz ordentlich verkabelt für ne Frau
Blond in "Thorsten"
Sexualisierte Gewalt
Das Netzwerk "musicmetoo" teilt anonym die Erfahrungen von Betroffenen, die sexualisierte Gewalt in der Musikbranche erlebt haben. Das Ziel ist es, Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt in der deutschen Musikbranche sichtbarer zu machen. Sie möchten zeigen, dass das keine Einzelfälle sind, sondern strukturelle Probleme.
Wie viele Berichte das sind, ist erschreckend, aber leider nicht überraschend. Ob von Musikern oder als Veranstaltungstechnikerin von Kollegen belästigt, Geschichten wie diese sind überall zu finden. Als Frau, die in der Veranstaltungsbranche jobbt, habe ich selbst einige Grenzüberschreitungen und Belästigungen mitbekommen oder erlebt.
Auch gibt es Vergewaltigungsvorwürfe gegen Personen innerhalb der Musikindustrie. Trotzdem brechen viele Musiker*innen ihre Zusammenarbeit mit potentiellen Tätern nicht ab. Der Profit scheint dann doch schwerer zu wiegen als Gewaltprävention.
Das ist auch Teil des Problems: Es gibt zu wenige männliche Allies und zu viel Täterschutz. (Anm.: Männliche Allies sind solidarische Personen, die Frauen unterstützen und sich für ihre Rechte und Anliegen einsetzen.)
Es herrscht noch oft das Vorurteil, dass man bei Vergewaltigungen "von Fremden ins Gebüsch gezogen wird", obwohl die meisten Täter*innen aus dem nähsten Umfeld kommen. In einer Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend nannten nur knapp 15% der Frauen eine unbekannte Person als Täter*in. Es können eben auch Chefs oder Musiker-Kollegen sein.
"Das heißt für uns in der Branche, dass wir diesen Menschen begegnen. Dass wir Angst haben zu Preisverleihungen zu gehen, weil wir wissen, wir begegnen vielleicht dieser Person. Und man denkt "Oh Gott, vielleicht ist der da. Was mache ich dann, wenn er ihr begegnet? Der, der ihr das angetan hat, die meine Begleitung ist?"
Antje Schomaker im Interview
Gegenentwürfe zeigen Erfolg
Wo Probleme sind, da müssen Lösungsansätze her. Veranstaltungen wie das DCKS Festival von Carolin Kebekus mit ausschließlich weiblichem Line-Up können ein Angebot sein. Aber auch dort bestand das Publikum aus größtenteils weiblichen Personen und Menschen, die sich sowieso schon für das Thema interessieren. Noch schöner wäre es natürlich gewesen, wenn dies auch die breite Masse erreicht.
Auch gemeinnützige Netzwerke wie "Sisters of Music" von und für Frauen, die in der Livemusik-Industrie arbeiten, sind wichtig. Mit Awarenesskonzepten wie "saferspaces" können Menschen, die auf einer Veranstaltung einen Vorfall beobachten oder selbst erleben, anonym Hilfe von geschultem Personal annehmen.
Solche Konzepte sind für marginalisierte und gewaltbetroffene Gruppen wichtig - auch wenn es traurig genug ist, dass es diese überhaupt geben muss.
In Deutschland fehlt das Äquivalent zu großen Only-Female-Bands wie Boygenius, Wet Leg oder HAIM. Ebenso gibt es hier keine vergleichbaren Fandoms zu denen von Taylor Swift oder Billie Eilish. Das liegt vielleicht unter anderem daran, dass es in Deutschland nicht ganz so populär ist, Teil eines Fandoms zu sein - aber das ist nur meine Sicht.
Es wäre wünschenswert auf den großen Festivals in Deutschland auch mal Künstler*innen wie Lana del Rey, Florence And The Machine oder Jorja Smith zu sehen - das funktioniert in anderen europäischen Ländern auch. Oder wir haben bald selbst nationale Musikerinnen auf Headliner-Niveau?
You're not just imagining things. It's tough. Everything that a guy says once, you have to say five times.
Björk in einem Interview mit Pitchfork
Und was kann ich jetzt tun?
Das habe ich auch Anna Groß von der MaLisa Stiftung gefragt. "Man kann einfach mal seine eigene Hörgewohnheit testen und die Playlisten oder Plattensammlungen durchgehen und gucken, wie viel Musik eigentlich von Frauen ist. Das eine ist nämlich Geschmack, das andere sind Gewohnheiten. Auch das kann man ja ändern, wenn man sich aktiv damit auseinandersetzt." sagt sie.
Ein weiterer Schritt ist es, mehr Konzerte von Frauen zu besuchen. Außerdem kann man mithilfe von Merchkäufen und analogen Tonträgern weibliche Artists finanziell unterstützen - denn damit verdienen Musiker*innen prozentual mehr als mit Streaming.
Künstlerinnen an Freunde weiterempfehlen ist eine weitere Option. "Oder man könnte Streaminganbietern und Festivals kommunizieren, dass man sich mehr weibliche Repräsentation wünscht und schreibt denen: 'Ich bin deshalb nicht zu euch gekommen und es wäre super, wenn ihr das zukünftig anders macht'", meint Anna Groß.
Letztendlich ist das Ganze ein Zusammenspiel aus Konsument*in und den großen Musikgiganten. Wir brauchen verbündete Männer, die sich positionieren und solidarisieren, genauso wie eine kritische Auseinandersetzung mit Machtstrukturen innerhalb der Branche.
Bei kürzlichen Vorwürfen gegenüber männlichen Musikern stammte der Großteil der Solidaritätsbekundungen in meiner Timeline mal wieder hauptsächlich von FLINTA*. (Anm.: FLINTA* = Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, nichtbinäre, trans- und agender Personen; Sternchen für alle nicht-binären Geschlechtsidentitäten)
Sprechen wir über eine Geschlechtergerechtigkeit in der Musikbranche, braucht das eine intersektionale feministische Perspektive. Denn bisher ist die Musikbranche leider immer noch "cis - männlich - weiß - hetero" dominiert. Deshalb: Auf den Bühnen mehr FLINTA*, People of Colour und Menschen mit Behinderung! Musikindustrie, act up!
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