Ethel Cain hat letzte Woche ihr neues Album Perverts veröffentlicht. Mit langen, experimentellen Tracks und einer düsteren, fast paranormalen Atmosphäre schafft sie ein Werk, das zwischen Selbstexploration, religiöser Symbolik und beklemmender Dunkelheit oszilliert.

Mut zum Album
Erfolg scheint sich im Status Quo der Musikindustrie überwiegend durch Streams und Clicks zu messen. Natürlich hängt das mit Profit zusammen, und Artists müssen sich an die Plattformen und Konstrukte anpassen, die Geld bringen. Lange Songs mit verwobenen, experimentellen Klanggerüsten sowie Alben mit mutigen, ausdrucksstarken Konzepten sind, zumindest im Mainstream und der Popkultur-Oberfläche, weniger geworden. Selbst Charakter-Alben wie brat von Charli XCX oder The Rise and Fall of a Midwest Princess von Chappell Roan, deren Visionen mich sehr bewegt haben und definitiv eine Vision verfolgen, bedienen sich in ihrem Konzept an weitestgehend einfach nachzuempfindenden Themen und Klangwelten.
Wahrscheinlich trifft das auf Ethel Cains bisherige Werk genauso zu. Trotz der Düsternis, die sowohl ihren EPs, als auch dem Debüt-Album Preacher’s Daughter (2022) inhärent ist, greift die Musikerin universelle Thematiken wie Drogen, Missbrauch, familiäre Probleme und Kritik an Institutionen wie der Kirche auf. Dennoch gibt die in den Südstaaten aufgewachsene Musikerin und Produzentin durch ihre Vision und Ästhetik dem eigenen Schaffen einen besonderen Twist und ist damit durchaus erfolgreich, wie sie mit Perverts erneut beweist.
Das nächste Level für Ethel Cain
Während Preacher’s Daughter sehr nach US-amerikanischer Kleinstadt und trockenen, landschaftlichen Weiten zwischen Kirchenzwängen und Familienproblemen klingt, präsentiert Ethel Cain auf dem nun erschienen Perverts eine Abkehr von ihrem gängigen Songwriting und experimentiert mit Drone-Musik. Bisher war der Sound der Südstaatlerin von Indie-Rock, Ambient- und Ethereal-Elementen, sowie ihrer fließenden Stimme gekennzeichnet. Dabei schwebt stets eine gewisse gespenstische Düsternis über dem Schaffen. Diese Elemente greift die Künstlerin auf Perverts erneut auf, lässt sie jedoch explodieren und hebt sie auf ein paranormal anmutendes Level.
Von Gott und Perversion
Das neue Album Perverts besteht größtenteils aus sehr langen Tracks, die mit Geräuschen, Stimmverzerrung, fast gänzlicher Stille und Noise-Ausbrüchen spielen. Bereits der Opener "Perverts" zieht sich über zwölf Minuten, wovon ein Teil nur durch Atmen und ein leises, maschinelles Rauschen untermalt wird. Wenn Cain schließlich zu den ersten Zeilen ansetzt und eine Abwandlung des christlichen Gedichts "Nearer, my God, to Thee" von Sarah Flower Adams (1841) singt, legt sie den Grundstein für die Kontraste, welche auf diesem Album aufeinandertreffen.
„Nearer, my God, to Thee / Oh, nearer to Thee / E'en though it be a cross that raiseth me / Still all my song shall be nearer, my God, to Thee / Nearer, my God, to Thee, nearer to Thee”
Ethel Cain in "Perverts"
Der Glaube, die Nähe zu Gott, wurde bereits auf Preacher’s Daughter behandelt. Auf Perverts öffnet Ethel Cain nun mit der hereinbrechenden Finsternis den Raum zur Erkundung von Sünde, Sexualität und Verdammnis, die dem Wunsch nach Gott entgegenstehen. Obwohl die Musikerin selbst deutlich gemacht hat, dass Perverts nicht mit der auf Preacher’s Daughter geschaffenen Ethel-Cain-Lore zusammenhängt, sind gewisse Metaphern, Bilder und Klanggerüste durchaus als Exkurs in die auf dem Debüt aufgeworfene zerstörerische Kraft von religiösen und familiären Schranken zu sehen.
Selbsthass, Verdammnis und Selbstexploration
Mit dem zweiten Song "Punish" taucht die 26-jährige Songwriterin ebenfalls in Themen wie Selbsthass und Selbstwirksamkeit ein. Gleich einem Mantra wiederholt sie vor einer Störgeräusch-Kulisse mit ätherischer Stimme die Worte "Punished by love“ und öffnet ein weiteres zentrales Element dieses Albums. Mit Perversion ist auf diesem Werk nicht nur der Bezug zur Sexualität gemeint, sondern ebenfalls zur Abkehr von einem ursprünglichen Status Quo, von Meinungen und Haltungen. Neben der Rolle des eigenen Selbst, wie man sich selbst verliert und fragil wird, geht es so ebenfalls um Liebe: Liebe zu sich, Liebe zu anderen und was es bedeutet, geliebt zu werden. Songs wie "Vacillator" und "Onanist" offenbaren dabei einen Schlund der Emotionslosigkeit und erdrückender Einsamkeit, die alles verschlingen.
Im Laufe der Songs und besonders während des 15-Minuten-Brechers "Pulldrone" wird das Spiel zwischen Sünde, Verdammnis und Selbstexploration stetig düsterer. Hörende werden Beobachtende, die Cain durch ihre Gedanken und die berstenden Ambient- und Noise-Elemente nicht mehr loslässt und mit sich selbst verschmelzen lässt. Auf "Etienne" erzählt die Künstlerin die Geschichte eines suizidalen Mannes, fließt rein instrumental durch "Thatorchia", bevor sie sich auf dem letzten Stück "Amber Waves" Anlehnungen an den Horrorfilm "The Reflecting Skin" widmet und Sucht thematisiert. Ihre letzten gesungen Worte "I can’t feel anything" scheinen den Vortex der durchdringenden Bedrohlichkeit schließlich aufzulösen. Eine Menge Emotionen bleiben zurück.
Mit Perverts wirbelt Ethel Cain viele Themen auf, die weh tun und dennoch einer Befreiung gleichen - wenn man es schafft, dem Sog der Dunkelheit und Gedankenspiralen zu entkommen. Besonders die Ambient-Sounds und die beinah paranormale Atmosphäre lassen das Album strahlen. Cain zeigt ein eindrucksvolles Gefühl für das Spiel mit Stille und Lärm-Gewalten. Sie erschafft einen Raum zwischen der Gegenwart und dem Nichtweltlichen.
Auch wenn ich mich bei der Albumankündigung sehr über die lange Albumdauer gefreut habe, war ich beim ersten Hören zunächst enttäuscht vom wenigen Gesang. Neunzig Minuten, die eine verschluckende Beklemmnis erzeugen und durch die gezielt platzierten Störgeräusche gruselig erscheinen, hört man nicht einfach in einer Sitzung.
Perverts ist ein mutiges Album, auf das man Lust haben und sich einlassen muss. Dennoch erscheint es mir als eindrückliches und erfrischendes Konzeptalbum, das für Ethel Cains künstlerische Vision steht und ihr Talent für Soundwelten und Lyrik spiegelt.
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